Im Kino

Sind Menschen Monster?

Die Filmkolumne. Von Patrick Holzapfel
15.05.2024. Nuri Bilge Ceylan wandelt in seiner düsteren Charakterstudie "Auf trockenen Gräsern" weiter auf den Spuren Tschechows. Seine Hauptfigur, ein Lehrer in der türkischen Provinz, ist diesmal besonders nahe am Abgrund gebaut. Dennoch verteidigt der Film die Ambivalenzen des Menschlichen.

"Weil Menschen so sind", stellt ein älterer Mann am Ende eines der vielen mitreißenden, philosophischen Dialoge in Nuri Bilge Ceylans neuntem Spielfilm lakonisch fest. Weil Menschen so sind, gebe es das Unglück. Darauf ein tiefer Schluck Wein und ein bisschen Selbstzufriedenheit über das Gesagte. Dieses apathische, nihilistische Schulterzucken im Angesicht individueller und gesellschaftlicher Untaten legt sich wie die eine Schneedecke über die Handlungen des Films. Alle, die täglich am Kampf gegen die Ungerechtigkeit der Welt ermüden, dürften sich in den wehrlosen Parolen, dem erschöpften Ausatmen, den schweren Schritten der Figuren erkennen. Hüzün nennt sich dieses Gefühl des fortwährenden Scheiterns, das der türkische Schriftsteller Orhan Pamuk vor 24 Jahren in der SZ beschrieb, mehr eine Stimmung als eine Krankheit. Ceylan filmt dieses Gefühl wie kein anderer.

Draußen zwitschern Vögel in der eisigen Luft, Schnee knirscht, darunter vergilbt Gras, aber, wie es einmal vielsagend heißt im Film: "Es geht nicht um das, was passiert, es geht um das, was es bedeutet." Wie immer bei Ceylan handelt es sich auch bei dieser Arbeit um eine an Anton Tschechow und dem Existenzialismus geschulte Auseinandersetzung mit der Ambiguität des menschlichen Seins. Mit weniger gibt sich der türkische Filmemacher seit jeher nicht zufrieden. Diesmal aber ist sein Protagonist, der in der unwirtlichen Provinz Ostanatoliens unterrichtende Kunstlehrer Samet, besonders nah am Abgrund gebaut. Als wäre seine frustrierte, Menschen manipulierende, Macht missbrauchende Egozentrik nicht schon genug, zeigt er auch eine besondere Zuneigung zu seiner 14jährigen Schülerin Sevim. In zwei bedeutungsgeladenen Schwenks auf die Füße junger Mädchen zeigt sich, dass diese Zuneigung krankhaft ist. 

Selbst erklärt sich Samet seine Malaise mit İncesu, dem entlegenen Ort, an dem er seinen in der Türkei üblichen Pflichtdienst als Lehrer bereits seit vier Jahren ableisten muss. Für ihn gibt es eine Art unausweichliches Schicksal, das in der majestätischen, aber menschenfeindlichen Landschaft einen sinnbildlichen Ausdruck findet. Gleich zu Beginn sehen wir ihn durch tiefen Schnee stapfen, eine verlorene Gestalt ohne wirkliche Richtung. Seine beiden Lehrerkollegen Kenan, mit dem er eine Wohnung teilt, und Nuray, die an einer anderen Schule unterrichtet und bei einem Anschlag ein Bein verloren hat, haben andere Ansichten. Vor allem Nuray gibt Samet mit ihren aktivistischen Denkweisen kontra. Ihre Präsenz gibt dem sonst so männerdominierten Kino Ceylans eine neue Note, wenngleich auch sie letztlich dazu dient, die hoffnungslose Lächerlichkeit Samets zu entlarven. Dieser umwirbt Nuray, als er merkt, dass sie Kenan bevorzugt. Es entsteht ein Dreieck, das zusammenbricht, als Nuray die beiden Männer und deren pubertäres Gebaren konfrontiert. Es ist schon erstaunlich, wie unreif diese männlichen Lehrer agieren.


Kann man sich zu Beginn des Films noch mit Samets kauziger, augenfunkelnder Art anfreunden, auch weil er, wie wir, seine Umgebung beobachtet und sogar beeindruckende ethnografische Fotos von hier macht, sorgt Ceylan nach und nach dafür, dass die Zuschauer langsam jede Sympathie mit Samet verlieren. Der Film fragt: Was wäre, wenn man ein Monster wie einen Menschen filmt? Oder anders: Warum sind Menschen Monster? Es mag widersprüchlich klingen, aber hinter dieser Schwärze verbirgt sich ein Humanismus, der das Menschliche eben gerade im Niederträchtigen verteidigt. Manchmal bewegt sich "Auf trockenen Gräsern" bedrohlich nahe an den Grenzen des Apologetischen, insgesamt aber überlässt er uns das Urteil.

Egal, wie daneben manche Handlungen Samets erscheinen, man lernt sie zu verstehen. Weil er ein Mensch ist, fällt es schwer, ihn zu verdammen. Die Aufnahmen von streunenden Hunden im Schneesturm dürfen da durchaus als Metapher verstanden werden, müssen aber nicht. Denn auf der einen Seite wirkt hier alles sinnbildlich aufgeladen, seien es erklommene Hügel, hinfortflatternde Vögel oder die Prothese Nurays, auf der anderen Seite sind diese Dinge nunmal, was sie sind. Es schneit eben. Hunde sitzen im Schnee. Jemand möchte geliebt werden. Die Zeit vergeht. Dann wird es Sommer. Man kann es nicht ändern.

Es wäre einfach, die bisweilen hoch zielenden Diskurse und Bilder des Films als prätentiös zu beschreiben, aber dafür ist die Auseinandersetzung mit den großen Fragen des Lebens zu dringlich und persönlich. Außerdem versteht sich Ceylan darauf, die großen Themen mit alltäglichen Dingen und Nebenherlaufendem zu durchkreuzen, seien es Bemerkungen zu Tee, Wein oder einem blöden Witz. So entsteht eine realistische Welt, in der es nie seltsam erscheint, dass die Menschen alle so reden, als hätte Tschechow ein Theaterstück für sie geschrieben.

Ceylans Film ist eine radikale und für den Zeitgeist ungewöhnliche Auseinandersetzung mit Haltung und Wahrheit. Denn wo fast überall eindeutige Positionierung verlangt wird, enthält sich sein eigener Blick jeden Urteils, wählt stattdessen einen Überblick auf die verschiedenen, sich kaum verstehenden Positionen. Hier geht es nicht um richtig oder falsch, hier geht es, frei nach einem Zitat Jean Renoirs, darum, dass alle ihre Gründe haben und gerade dies die Hölle ist.

Die Wahrheit, was auch immer das sein soll, bleibt im Halbdunkel. Dadurch wird beispielsweise die brüchige Grenze zwischen Moral und Regeln deutlich, um die sich alles dreht, als Sevim und eine Mitschülerin sich über Samet und Kenan bei der Schulbehörde wegen unangebrachtem Verhalten beschweren. Ganz beiläufig aber doch eindeutig zeigt der Film die sich keine Sekunde hinterfragende Bruderschaft männlicher Kollegen. Es geht nie darum, ob sich jemand falsch verhalten hat, es geht nur darum, warum wie wer wem was gesagt hat. Die Nähe des Lehrers zu seiner Schülerin wird zunächst im dunklen Schulkorridor gezeigt, als er seinen Arm um ihre Hüfte legt. Die Handlung an sich ist beiläufig, sie könnte nichts bedeuten, aber sie bleibt im Gedächtnis aller, die sie gesehen haben. Gerade weil unklar ist, ob das noch in Ordnung ist oder schon unangemessen, wirkt die Einstellung nachhaltig. Die Dunkelheit des Bildes verstärkt diese Ungewissheit. Die Frage des Films: Wieso reden alle so schlau daher, wenn niemand wirklich etwas weiß? Die Frage des Kritikers: Warum bemühen sich so viele Filme um Eindeutigkeit, wenn die Vieldeutigkeit so viel stärker wirkt?

Das bevorzugte Mittel Ceylans, um diese Gleichzeitigkeit des Verschiedenen auszudrücken, sind lange kammerspielartige Dialoge. Dabei steht die Kamera mit etwas Abstand zum Geschehen, aber immer so, dass sich die zwischenmenschlichen Dynamiken nach und nach enthüllen. Meist treffen verschiedene Sichtweisen aufeinander, die sich aber nie trocken anfühlen, sondern von einem komplexen psychologischen Konstrukt unterfüttert werden. So mischt sich Sehnsucht in die Philosophie, Erschöpfung in die Moral und Begehren in das Argument. Der Redeschwall des Films hinterfragt jedes Wort, kaum jemand meint, was er sagt. In einer verstörenden Sequenz thematisiert Ceylan auch den eigenen Blick als Teil dieses sich selbst erschwerenden Netzes verschiedener Perspektiven, nämlich dann, wenn Samet mit einem Mal aus der Kulisse tritt, um nonchalant über ein Filmset zu gehen. Die Crew werkelt, nimmt kaum von ihm Notiz. Er ist kurz davor mit Nuray zu schlafen, hat ihre Wohnung für einen Moment verlassen, geht in ein Badezimmer am riesigen Filmset in einer Halle, wirft eine Viagra ein, schaut in den Spiegel und kehrt zurück in den Film. Auch sein Selbsthass ist ein Konstrukt, die Wirklichkeit gibt es nicht, die Wahrheit vielleicht.

Patrick Holzapfel

Auf trockenen Gräsern - Türkei 2023 - OT: Kuru otlar üstüne - Regie: Nuri Bilge Ceylan - Darsteller: Deniz Celiloğlu,Merve Dizdar,Musab Ekici, Ece Bağcı, Erdem Şenocak - Laufzeit: 197 Minuten.