04.10.2005. Wir präsentieren die Finalisten des Deutschen Buchpreises. Ergänzt durch unsere eigene handverlesene Auswahl der besten Bücher des Monats über umtriebige Tote und gefährliche Protokolle.
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Weitere Anregungen finden Sie
hier in unserem
Vorgeblättert,
hier in den
Büchern der Saison,
hier in
Arno Widmanns "Nachttisch" oder
hier im vergangenen
Bücherbrief. Und schon mal vormerken: ab 13. Oktober erscheinen die Zeitungsbeilagen zur
Frankfurter Buchmesse.
Deutscher Buchpreis 2005 Zum ersten Mal wird am
17. Oktober der
Deutsche Buchpreis verliehen (hier unsere
Übersicht). Alle sechs Kandidaten der Shortlist sind durchweg bejubelt worden, von der Jury ebenso wie der Rezensentenzunft. Was sagen Sie? Welches Buch ist die
25.000 Euro Preisgeld wert? Es geht um einiges, also warten sie nicht auf die Experten.
Lesen Sie selbst!Postmoderne SintflutIn den vergangenen Jahren hat man von
Gert Loschütz nicht viel gehört, nun ist er mit einem Paukenschlag ganz vorne mit dabei. Nichts weniger als eine "
postmoderne Version der Sintflut" hat die
Zeit in
"Dunkle Gesellschaft" () entdeckt. In zehn langen Regennächten muss der Flusschiffer Thomas, den es in die
niedersächsische Provinz verschlagen hat, an die Wendepunkte seines Lebens denken und vor allem an die schwarzgekleideten und
weißgesichtigen Männer, die immer auftauchten, wenn Unheil im Anzug war. Die
Zeit beteuert, das Buch in einem Atemzug verschlungen zu haben. Die
NZZ lässt sich von Loschütz genüsslich in die Irre führen und labt sich an der Spannung zwischen
schwarzer Romantik und stocknüchternem Stil.
Zeitlos verfluchtWissenschaftssatire, Zukunftsroman, eine Parabel auf die Aufklärung, ja auch die Geschichte einer männlichen
Midlife-Crisis von kosmischen Dimensionen, all dies ist
Thomas Lehrs "42" in den Augen der
FAZ. Für 70 Besucher des Kernforschungszentrums CERN steht plötzlich die Zeit still. Die Erde verwandelt sich in einen
Skulpturenpark ohne die geringste Bewegung, fünf Jahre lang. Dann tickt die Uhr für drei Sekunden wieder normal. Die verblüffende Vorstellungskraft, mit der Lehr die immobile Welt und das darin ablaufende
Drama der Chronifizierten schildert, lässt die
FAZ in angenehm apokalyptischer Erregung zurück.
Jüdischer Alltag, die Familie und WienArno Geigers großer Roman
"Es geht uns gut" der von drei Generationen einer
Wiener Familie von 1938 bis 2001 erzählt, ragt laut
NZZ wohltuend aus der Flut der Familenromane heraus, weil Geiger jeglichem Klischee und Gegenwartsgeschimpfe entsage. Auch
Gila Lustigers Porträt der eigenen Familie
"So sind wir" sticht für die Schweizer heraus, weil sie ein Stück modernen
jüdischen Alltags beschreibt, "ohne sich aus der Geschichte davonzustehlen".
Daniel Kehlmanns unterhaltsamer Roman
"Die Vermessung der Welt" und
Friederike Mayröckers wunderbare Buchgeburt
"Und ich schüttelte einen Liebling" nennen wir nur kurz. Nicht weil sie uns nicht gefallen, sondern weil wir sie schon ausgiebig gefeiert haben, alsund im vergangenen
Bücherbrief.
Blutige TinteNun zu unseren persönlichen Lieblingen des Monats: Für die amerikanische Zeitschrift
Time ist
Cornelia Funke neben Papst Benedikt XVI. und Michael Schuhmacher die einflussreichste Deutsche.
"Tintenblut" wird ebenso Furore machen, wie der weltweit erfolgreiche Vorgänger
"Tintenherz" prophezeit die
Zeit. Meggie bricht noch einmal in die Tintenwelt auf, um Staubfinger vor dem grausamen Basta zu warnen und den
Speckfürsten oder den Schönen Cosimo wiederzusehen. Funke jongliert mit dem Leben ihrer Figuren, wie es lange kein deutscher Erzähler gewagt hat", jubelt Konrad Heidkamp, der die anstehende Verfilmung der
Kinderbuch-Trilogie kaum mehr abwarten kann.
Haltbare LügenBekannt geworden ist
Will Eisner durch die Spirit-Comics, die vor sechzig Jahren technische und erzählerische Maßstäbe setzten. In
"Das Komplott" das Eisner kurz vor seinem Tod im Januar beendete, widmet er sich den
Protokollen der Weisen von Zion, jene Fälschung, die den Juden eine Weltverschwörung andichtet. Ein "
Meisterstück der politischen Melancholie", jubelt die
SZ, die ganz gebannt studiert, wie Eisner die Entstehung und die mannigfaltigen Mutationen des Machwerks von der
russischen Zarenzeit bis in die Gegenwart wunderbar und lebensnah nachzeichnet.
Die Rückkehr des BösenDer Grund für den derzeitigen Ausbruch der Gewalt auf der Welt ist ein
elementarer Hass, der jenseits aller soziologischen, politologischen oder sonstwie rationalistischen Erklärungsmodelle liegt, meint
Andre Glucksmann.
"Hass" entsteht, wenn die Wut in einem zum "Monstrum" ausgebrütet wird, weiß die
FAZ, die Glucksmann am besten findet, wenn er die aktuellen Erscheinungsformen dieses Hasses als Mutationen alter Denkmuster entlarvt. Eine düstere, "unterschiedlich plausible" Diagnose der Weltlage habe Glucksmann da vorgelegt, die mit Montagine argumentiert, ohne mit diesem "
Meister des Zweifels" aber gleichziehen zu können.
Geschäftige ToteWenn
Mary Roach mit "manchmal geradezu teuflischer Akribie" von nützlichen Leichen und ihren postumen Karrieren als
Guillotinentester oder Astronauten erzählt, möchte sich die
SZ stellenweise unwillkürlich die Nase zuhalten. Den Ausflug in
"Die fabelhafte Welt der Leichen" bereut sie trotzdem keine Sekunde. Dabei gehe es Roach nicht um skandalträchtige Enthüllungen über schändliche
Experimente mit Toten. Vielmehr berichte sie "kundig und humorvoll" aus der Welt zwischen Pathologie und Bestattungsinstitut.
Einbeiniges TennisMit seinem neuen Roman
"Zeitlupe" hat Nobelpreisträger
J. M. Coetzee die
taz überrascht. Eben noch bewundert sie, wie luzide und präzise das Innenleben eines alten Mannes geschildert wird, der durch einen Unfall ein Bein verloren hat, als plötzlich die altgediente
Elisabeth Costello an der Tür steht und ein anderes Buch beginnt. Doch das großartige "
intellektuelle Dialog-Tennis" über Alter, Liebe und die Scham, das sich aus diesem Zusammentreffen entwickelt, entschädigt dann für die zeitweilige Verunsicherung. Die
SZ hält das Werk schlicht für ein zeitgemäßes wie
zeitloses Monument der Kunstform Roman.
Malen für DeutschlandZum Schluss noch was für Geist und Auge: Wie souverän
Hubert Locher die
"Deutsche Malerei im 19. Jahrhundert" unter dem Aspekt der aufkommenden nationalen Identität präsentiert, lässt die
NZZ frohlocken: gut lesbar, klare Struktur, einfach "
state of the art"! die wichtigsten Maler, Wekre und Schulen werden vorgestellt sowie die großen Kunst-Zentren Wien, Berlin, Düsseldorf und München beschrieben. Nur
mehr Seiten sollte der Band haben, damit auch Phillipp Otto Runge die Aufmerksamkeit zuteil werden kann, die ihm nach Ansicht der Schweizer gebührt.