28.06.2005. Worte, mal wie sanfte Akkorde gesetzt, mal gleichsam in den Boden gerammt. Außerdem brillant formulierte Warnungen, tragische Androiden und russische Verbrechertattoos. Die besten Bücher der vergangenen vier Wochen, wie immer skrupellos ausgewählt.
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Wir wünschen eine anregende Lektüre!Präzises aus der ProvinzOh Gott, es gibt sie noch, die junge deutsche Literatur aus der Provinz, seufzt die
NZZ.
Svenja Leibers schmaler, düster-eindringlicher Erzählband
"Büchsenlicht" () ist schon seit einigen Monaten auf dem Markt, die anhaltende Begeisterung veranlasst uns nun, dieses Stück "
Antiheimatliteratur"
noch einmal eindringlich zu empfehlen. Leiber thematisiert die Spannungen im so gar nicht idyllischen ländlichen Milieu. Die
taz kann beim besten Willen kein überflüssiges Wort entdecken, jedes scheint ihr gleichsam "
in den Boden gerammt" zu sein, typisch deutscher Norden eben. Die
FAZ ist sich nicht sicher, woher die mitreißende Wut dieser "glänzenden Erzählerin" kommt. Sind es die "
Ackersleute vom Prenzlauer Berg"? Denn Leiber wohnt schon länger in Berlin.
Briefe aus BagdadIn Bagdad gibt es keine deutschen Reporter, deshalb überlassen wir es gerne
Jon Lee Anderson, uns über
"Die verwundete Stadt" zu erzählen. Hier sind die "
Letters from Baghdad" gesammelt, die Anderson an den
New Yorker geschickt hat. Die
taz ist von der "beeindruckenden"
Faktenfülle auf 530 Seiten überwältigt, aber auch etwas verwirrt. Ihr fehlt die Kommentierung und Einordnung des Erlebten. Nach amerikanischen Maßstäben aber hat Anderson
vorbildlich gearbeitet. Ein schönes Beispiel für den traditionellen Unterschied zwischen europäischem Meinungsjournalismus und dem angelsächsischen Gebot der Trennung von Fakten und Kommentar.
Königlich-kaiserliches JugoslawienSo spät, so spät. Zehn Jahre hat es gedauert, bis
Dragan Velikics virtuose Verknüpfung des
untergehenden Jugoslawiens mit der zerfallenden kuk-Monarchie endlich auf Deutsch erschienen ist. Der Serbe Velikic erzählt in seinem Roman
"Lichter der Berührung" von einer Frau, die mit der Literatur besser zurecht kommt als mit dem Leben, noch mehr, seitdem sie im
österreichischen Exil lebt. Obwohl die chronologische Ordnung außer Kraft gesetzt wird, steht die
FAZ auf sicherem Boden, dank der Kombination aus "erzählerischer Rafinesse" und "handfester Substanz". Die
NZZ macht die Stimmigkeit des Romans vor allem an Velikics
samtigen Stil fest, weich gleiten die Sätze dahin, "behutsam wie Akkorde" sind die Wörter gesetzt. Ihr Resümee: Anspruchsvoll und (trotzdem) ein Leseerlebnis! Hier eine
Altmeisterlich schönDer genaue sprachliche Takt, den
Tobias Wolff so meisterlich beherrscht, ist selten geworden, seufzt die
Zeit. Fast ebenso selten wie die Leser, die Tobias Wolff kennen und schätzen. Vielleicht ändert sich das mit diesem "
brillanten Entwicklungsroman".
"Alte Schule" erzählt die Geschichte eines Internatszöglings, dem die Literatur der einzige Weg zu Anerkennung ist. Während die Zeit einen fast "altmeisterlich schönen Roman" feiert, erkennt die
FAZ gar eine "
Liebeserklärung an das Lesen" selbst. Unmerklich, ohne Effekthascherei entfalte das Buch einen eigenen Zauber, was wohl auch an der Atmosphäre aus dem "Club der toten Dichter" liegt.
Päpste, Drogen, PräsidentenDurchhalten, meint die
SZ.
"Der Garten", die Geschichte eines Gartenbauarchitekten der in ein
Mordkomplott verwickelt wird, komme zwar etwas langsam in Fahrt, dann aber serviert
Andrea Canobbio einen Schatz italienischer Spezialitäten: unter anderem den Papst,
korrupte Ministerpräsidenten, schwere Verbrechen und harte Drogen. Offensichtlich verdrängt bei dieser wenig schmeichelhaften Italiencharakterisitk die "prickelnd unterkühlte Erotik" jeden Gedanken an politische Korrektheit. Die
NZZ hält den Roman für ein ganz "
enormes Vergnügen", nur hätte sie den Originaltitel, "Die Unordnung der Dinge", vorgezogen. Zum Glück erweist sich Canobbio in dem Wirbel der Erzählstränge als
souveräner Strippenzieher.
Nach dem KomaDer Titel sagt es schon:
"Eine amerikanische Familie" gehört zu dem Genre, das in den USA durch Jonathan Franzen und Jeffrey Eugenides Furore gemacht hat.
Matthew Sharpe tritt erfolgreich in ihre Fußstapfen und erzählt die Geschichte eines Familienvaters, der sich nach dem Erwachen aus dem Koma auf der geistigen Ebene eines
Vierjährigen wiederfindet und von seinen Kindern mühevoll wieder an das Erwachsenenleben herangeführt wird Trotz des ernsten Hintergrunds entdeckt die FAZ Szenen von "
beträchtlicher Komik", die manchmal ins Makabre abgleiten. Zusammengenommen eine "überzeugende Mischung aus Ironie und Warmherzigkeit".
Die Welt nach JoschkaGar nicht schlecht, Joschka, rufen die Kritiker dem Außenminister zu. Michael Naumann preist
Joschka Fischer in der Zeit sogar als den intelligentesten Amtsinhaber seit Willy Brandt. Die
taz stellt
"Die Rückkehr der Geschichte" gar in eine Reihe mit den Erinnerungen und Bekenntnissen von illustren Kollegen wie
Talleyrand, Bismarck und Kissinger, in die sich Fischer allerdings in aller Bescheidenheit eingeschrieben hat Streckenweise sei das Buch sogar "brillant". Die
FR erklärt ihn zum Dezisionisten, manchmal weht ihr aus den Seiten aber auch noch ein wenig
Frankfurter Gutgläubigkeit entgegen. Die weltgewandte
NZZ hat das alles schon einmal gehört, sie findet zwar wenig Fehler, aber ebensowenig Tiefgang.
Tragische AndroidenVor lauter Internet ist die
Roboterforschung etwas in den Hintergrund geraten. Das "Standardwerk" von
Daniel Ichbiah sorgt nun für eine zuverlässige Aktualisierung, verspricht die wunschlos glückliche
SZ. In
"Roboter" sei einfach alles da, von Geschichte über Technik bis zur kulturellen Bedeutung, von den beweglichen Statuen der Antike bis zur
Tragik des Androiden. In dem von Michael Schetsche und Kai Lehmann herausgegebenen Aufsatzband über
"Die Google-Gesellschaft" konnte sogar die internetversierte
FAZ noch einiges lernen, als Fundament eines Gesellschaftsmodells will sie die
Institution Google aber dann doch nicht sehen. Die
NZZ staunt, dass die Auswahlkriterien der marktbeherrschenden Suchmaschine nach wie vor
undurchschaubar bleiben.
Begründeter AlarmWas zum Nachschlagen: Für das
Wuppertal-Institut haben Fachleute die weltweite
Ressourcenverteilung analysiert und so verständlich wie detailliert aufgeschlüsselt, dass die
Zeit angesichts einer so unerhörten Datendichte in
"Fair Future" nur mit den Ohren schlackern kann Zu allem Überfluss ist das Kompendium noch so flüssig formuliert, sodass es nicht weiter stört, dass die
alarmierenden Befunde nicht alle neu sind. Weniger gefällt ihr dagegen, dass weder Verursacher noch Hoffnungsträger genannt werden und zur Verbesserung der sich zuspitzenden Lage ein wenig
blauäugig auf globale Institutionen vertraut wird.
Gestochen scharfe VerbrecherporträtsJahrzehntelang hat der Gefängniswärter
Danzig Baldaev die
Tätowierungen russischer Verbrecher gesammelt. Herausgekommen ist die 400 Seiten starke
"Russian Criminal Tattoo Encyclopaedia" deren Faszination sich auch die gesetzestreue
NZZ nicht verschließen kann. Auf den Körperzeichnungen ist nicht weniger als Lebenslauf der Gangster festgehalten, mit Baldaevs Unterstützung entschlüsselt man Gesinnung, Taten und Position ihrer Träger. Die
taz erholt sich von diesem
brutalen Horrorkabinett bei der wissenschaftlich kühlen Einleitung des Sprachforschers Alex Plaza-Sorno, der Tätowierungen ähnlich einer Uniform als
linguistisches Zeichen deklariert.
Apokalypse liveRechtzeitig zum amerikanischen Nationalfeiertag "kennt der Horror kein Entkommen".
Orson Welles' legendäres Hörspiel
"War of the Worlds" funktioniert heute noch genau so gut wie 1938, jubelt die
SZ. Die Invasion der Aliens, geschildert von
körperlosen Stimmen, jagt dem Rezensenten auch in der vom Hörverlag rechtzeitig zum Film neu aufgelegten Originalversion einen wohligen Schauer über den Rücken. Am furchterregendsten findet er aber das Schweigen der Lautsprecher, wenn alles verloren ist. Da kann man nicht mal weghören. Und "das
Grauen bahnt sich seinen Weg direkt zu den Hörern."