Sie waren Charlie, Polizisten, Ahmed und Juden oder - wie es auf einem Plakat hieß: "In Trauer, nicht im Krieg". Fast vier Millionen Menschen haben sich gestern an den
Demonstrationen in Frankreich beteiligt, allein in Paris waren es anderthalb Millionen. Sie trauerten um die Opfer der Anschläge, demonstrierten für die Freiheit des Wortes und die Einheit der Republik. Diese Menschen haben ein ganz anderes
ziviles Signal in die Welt gesandt als wir es von den waffenstarrenden Bilder gewöhnt sind, die den Kampf gegen den Terror gemeinhin begleiten. Selbst die fünfzig Staats- und Regierungschefs traten nicht als geballte Staatsmacht in Erscheinung, sondern reihten sich für fünfzehn Minuten in das demonstrierende Volk ein, untergehakt wie sonst die Sozialisten und
in der zweiten Reihe - nach den Verwandten und Freunden der Opfer. Wie schon in Norwegen zeigten die Citoyens, egal welcher Herkunft, dass Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit von der Gesellschaft
gewollt werden.
Place de la République. Antoine Walter hat das Foto unter CC-Lizenz bei Flickr publiziert.Was für ein krasser Gegensatz zu den Reaktionen in den
USA und in Großbritannien! Ausgerechnet die Franzosen, die so gern als staatshörig verspottet werden, die verächtlich gemachten "cheese-eating surrender monkeys" legen einen Mut und zivilgesellschaftlichen Geist an den Tag, zu dem sich Amerikaner und Briten nicht haben aufraffen können. Weder nach dem 11. September noch nach dem Attentaten in London oder Boston gab es einen
solchen gesellschaftlichen Zusammenschluss zur Verteidigung der freien und offenen Gesellschaft. Gerade die angelsächsischen Länder, die dem Staat so skeptisch gegenüber stehen, reagierten in der Hauptsache mit staatlichen Mitteln auf die Anschläge in ihren Ländern, mit dem
Patriot Act und
Guantanamo, mit Internet- und flächendeckender Videoüberwachung, mit Militär und einem ins Absurde aufgeblasenem Geheimdienstapparat. Die bürgerliche Gesellschaft zeigte sich nicht.
Genauso paradox ist die
gouvernantenhafte Verklemmtheit, die amerikanische und britische Medien angesichts der Karikaturen von
Charlie Hebdo zeigen und die den Liberalismus Lügen straft, für den sie sich so gern in die Brust werfen.
Charlie Hebdos radikal antiklerikaler Witz war oft recht drastisch, manche Karikaturen trieben einem wirklich die Schamesröte ins Gesicht, nicht alle waren gelungen, aber sie richteten sich
gegen Autoritäten, nie gegen den Menschen. Sie als rassistisch oder sexistisch zu brandmarken, grenzt ans Verleumderische.
Die schöne Eintracht der Franzosen wird so nicht dauern können, die Diskussionen um die
abgehängten Einwanderer aus der Banlieue einerseits und ihren Antisemitismus andererseits werden noch zu Streit führen. Der
Front national wird sich wieder aus seiner Deckung wagen. Und natürlich haben auch die Franzosen ihre Vorratsdatenspeicherung und ihre durchaus schlagkräftigen Geheimdienste. Aber zunächst einmal haben sie ein republikanisches Selbstbewusstsein an den Tag gelegt, das man sich für die USA und Großbritannien auch gewünscht hätte.
Thekla Dannenberg https://twitter.com/thekladannenbrg